Gala Diner

„Ich fass es nicht. Wie kann man sich so verunstalten? Als Du vom Friseur kamst, dachte ich ein Schwerbrecher will mich belästigen!“ Sabine ist not amused. Mein neuer Lock überzeugt nicht. Was Sie nur will? Mir gefällt es. Günstig und Stromkosten für‘s Föhnen fallen auch nicht mehr an. Optimal. „Den gestylten, jungen Dingern hinterhergaffen, aber selbst sich eine Glatze schneiden lassen. Das nenn ich mal konsequent!“, wettert sie weiter. „Jetzt reg Dich nicht auf. Ein schönes Gesicht braucht Platz.“ „Dann lass Dir mal besser einen Bart wachsen!“.
Zack! Der war gut. Perfekt gekontert. Zumal sie weiß, dass mir kein Bart wächst. Die Evolution hat für mich erkannt, dass ein Mensch, der am Computer arbeitet keine sinnvolle Verwendung für einen Bart hat. Oder ist’s meine weibliche Ader, die meine Testosteronproduktion hemmt und mir schon in frühen Kindheitstagen Bezeichnungen wie „Frauenversteher“ oder „Weiberheld“ einbrockte. Und das nur weil, ich gerne mit Vera, dem Nachbarsmädel spielte. Nicht Puppen oder so. Sondern ganz normal, was man so spielt: Räuber und Gendarme, Verstecken, Cowboy, Indianer oder Frauenarzt.
(Anmerkung: Sollte ich an dieser Stelle Ausdrücke verwendet haben, die in irgendeiner Weise beleidigend, diskriminierend oder sonst wie missverstanden werden, so tut mir das leid. Allerdings liegt in diesem Fall das Missverständnis auf der Empfängerseite der Information. Ich entschuldige mich aber ausdrücklich bei den Frauenärzten. Sorry Frauenärzt*innen.)  
„Was soll ich anziehen zum Gala Diner?“, wechsele ich das Thema. „Ich habe schon gar keine Lust mehr mit Dir dahin zu gehen. So wie Du aussiehst!“. „Ok, dann nehmen wir wieder das übliche All Inclusive Buffet“. Mein Ziel scheint in greifbarer Nähe: Vollfressen statt Konversation. Doch Sabine lässt mich nicht vom Haken: „Das würde Dir so passen. Ich habe mich auf diesen Abend gefreut. Wann haben wir schon mal die Gelegenheit, schick zu zweit Essen zu gehen. Also zieh das weiße Hemd und die dunkle Stoffhose an. Dann passt Du am besten zu mir.“
„Soll ich mir auch einen Trageriemen am Kopf annähen?  Hallo, wer bin ich denn?  Eine Gucci Handtasche, oder was?“ „Beeil Dich!“. Also beeile ich mich und setze mich mit dem Tablet auf’s Klo, um die aktuellen Börsenkurse zu checken. GALA-Dinner. Wer braucht das schon?  

Nach einer dreiviertel Stunde steht Sabine gestylt mit einer 187cm großen männlichen Handtasche in der Schlange mit 20 anderen Paaren vorm hoteleigenen Restaurant „Noblesse“. Noah wird vom Mini-Club Team für die Dauer des Gala-Diners bespaßt. Ein Service des Hotels. Meine Bitte dort auch betreut zu werden, wurde mit einem leichten Kopfschütteln der Animateurin widersprochen. Seis drum. Einmal Schicki Micki Essen – der Liebsten wegen.

„Bon soir“, begrüßt uns der Kellner am Eingang,“ Ihre Zimmernummer bitte?“ „Oh, die habe ich jetzt nicht dabei. Schatz wir müssen gehen!“. Ein kläglicher Versuch, den Sabine mit „Zimmer 521“ abwürgt. „Herzlichen Dank. Sie sitzen an Tisch 12. Bitte hier entlang“. Der Kellner führt uns durch einen Saal mit ca. 15 großen runden Tischen, an denen je 6 Personen Platz finden. Die Tische sind mit weißen Tischdecken, silbernen Kerzenständern und Blumengestecken festlich dekoriert. Sabines Augen leuchten. Auch ich kann mich dem Ambiente nicht entziehen, und freue mich über die Abwechslung zur Massenverköstigung im Buffet-Restaurant. Doch eine gute Idee von ihr. Vergessen sind die kurzen Haare. Vergessen ist der Streit. Vergessen ist der Umstand, dass ich nur ein Accessoire bin. Ich gewöhne mich langsam an das Leben als Handtasche und  blicke meinem Schatz tief und lange in die Augen. Ein romantischer Abend im Kerzenschein. Ganz für uns. Nur wir zwei. Wir zwei und Familie Sahin, meine sangeskräftige, türkische Lieblingsfamilie aus dem Fahrstuhl, die gerade zu uns an den Tisch gesetzt wird. Allerdings sind nur Großonkel Behic, sein Neffe Ferhat und seine Frau Etzig dabei. Es fehlt Oberhaupt und Opa Mahsun und dessen Frau Suna, die die Kinder betreuen, da die Kapazität im Miniclub bereits erschöpft war, wie wir vom Kindsvater Ferhat erfahren. „Da ist heute irgendso ein anstrengender Junge. Deshalb können die keine weiteren Kinder betreuen.“, gibt er als Erklärung. „Nun ja, schon schlimm, wenn die Kinder nicht erzogen sind, nicht wahr?“ Gebe ich zurück und denke an meinen Junior, der wahrscheinlich Ursache für den Engpass ist. „Jetzt fehlt nur noch…“, will ich gerade scherzhaft sagen als mir eine Stimme mit saarländischem Dialekt ins Wort fällt: „Ei, wen hamma dann doo? Hann ihr noch a Plätzje frei?“. Sabine legt mit einer schnellen Handbewegung ihre richtige Handtasche auf den freien Stuhl neben sich und schüttelt leicht den Kopf. Doch der Kellner, der meinen Freund Kalle an unseren Tisch führt, wendet sich an die Tischrunde: „Dürfte ich den Herrn …wie war nochmal Ihr Name?“ „Karlheinz, oder ähnfach Kalle!“ „dürfte ich Herrn Kalle zu Ihnen an den Tisch setzen? Der Herr ist ohne Begleitung und sie scheinen sich wohl zu kennen?“. „Ei jo, kenne mir uns!“, gibt Karlheinz zum Besten und reicht Sabine ihre Handtasche, die den freien Stuhl neben ihr blockiert. Betretenes Schweigen setzt ein und Kalle sich hin. „Ich heiße Behic“, beginnt Onkel Sahin die Vorstellungsrunde, „das ist meine Nichte Ezgi und ihr Mann Ferhat. Der Name Ferhat steht für Freude. In diesem Sinne freuen wir uns, diesen Abend mit Ihnen verbringen zu dürfen.“ Sabine gibt mir mit dem Knie einen Stupser unterstützt von einer kopfnickenden Aufforderung, dass ich jetzt an der Reihe wäre. „Nun, ähm. Also ich bin De Bottler und das ist meine Frau Sabine! Also Sabine – wie flotte Biene“, versuche ich dem Namen ´Sabine´ eine ähnlich tiefgründige Bedeutung zu geben. Die dunklen Augen von Ferhat sehen mich verständnislos an. “Oder fleißige Biene“, reite ich mich noch mehr in den Fettnapf.  Zum Glück drängt sich Kalle in die Vorstellungsrunde. „Unn, mich kenne na jo. Kalle. Eigentlich Karlheinz, awwer nennt misch ruhisch Kalle. Unn jetzt hann ich Dorschd. Kellner!“, donnernt seine Stimme durch den Saal.
„Warum musst Du auch immer die falschen Leute kennen?“, raunt mir Sabine peinlich berührt ins Ohr. „Sei etwas dankbar, meine Liebe. Schließlich hat Kalle unserem Junior den Köpfer beigebracht!“, gebe ich zurück. Es folgt ein gezwungenes Lächeln von ihr zu Kalle, auf das er mit einem breiten saarländischen flirty Grinsen beantwortet.
Der Kellner erscheint erneut, diesmal mit weißer Serviette über dem Arm und beginnt sein Programm. „Als Aperitif empfehlen wir einen Aperol du Graphuit mit heimischer Orangeneinlage oder ein…“, „Bierche“ platzt Kalle heraus. Onkel Behic mischt sich ein „Wir nehmen alle ein Gläschen Löwenmilch!“ „Igitt, domit kannsch mit fortjahn!“, erwidert Kalle. „Löwenmilch?“, wirft Sabine fragend ein. „Keine Sorge, die Dame“, gibt sich Onkel Behic galant, „Löwenmilch ist nur ein umgangssprachlicher Ausdruck für Raki mit Wasser. Die Mischung hat ein milchähnliches Aussehen und nur ´wahre Löwen´ können eine Menge davon trinken.“ Das ist für uns Erklärung genug, und wir nicken dem fragenden Blick des Kellners zu. Karlheinz will nicht ausgeschlossen sein: „Für mich dann ach so a Löweding – Unn a Bierche!“. „Herzlichen Dank die Herrschaften.“, bedankt sich der Kellner und macht sich auf den Weg, dem Löwenrudel seine Milch zu bringen.  

Es folgt ein kurzer Austausch über gängige Urlaubsthemen. Wie lange schon da? Wie war der Flug? Buffett ist immer recht voll, der Pool ist fantastisch…bla, bla, bla. Ich trifte im Geiste ab und denke an die blonde russische Schönheit im knappen roten Bikini am Pool. Und als ob Sabine meine Gedanken lesen könnte, tätschelt Sie mir beiläufig auf meinen Waschtrommelbauch, um zu sagen, träum weiter. Fünf Minuten später verteilt der Kellner die 6 Gläser Löwenmilch und ein Bier für Kalle. Anschließend erfolgt die Speisevorstellung.
„Als Entrée servieren wir heute “Loup de Mère“ begleitet von frischen Langusten an Knoblauch-Dip. Alternativ offerieren wir einen Frühlingssalat mit glasierten Tomaten und Crouton de Pain.“
„Bei Lou muss ich immer an die Sängerin vom Grand Prix denke. Wissener, wen ich menn?“ „Ja, die Rothaarige. Sie stammt, glaube ich aus Waghäusel. Irgendwo im nirgendwo“, oute ich mich als Grand Prix Kenner. „Genau! Was hat die nochmal gesunng?“ „Keine Ahnung. Aber Letzte wurde sie, glaube ich, nicht.“, gestehe ich meine Wissenslücke.  „Die Ähnzicht, die de Grand Prix moal gewonne hat, war unser Nicolle aus em Saarland. Die wohnt in Namborn! Kenne na die?“ „Ja, ein bisschen Frieden“, beantworte ich zielsicher die Frage und schaue mich um, ob ich nicht zufällig im Quiz-TAXI sitze und gleich 100 Euro für jede richtige Antwort erhalte. Aber statt eines Kassen-Klingelns ertönt die Stimme des Kellners. „Haben die Herrschaften eine Vorspeise gewählt?“.  Kalle nimmt einmal Lou, genauso wie alle anderen außer Sabine, die sich für den Salat entscheidet.  Der Kellner trollt sich von dannen und ich erhebe das Glas Löwenmilch zum Anstoßen mit einem lauten „Jammas“. Bei Ezgi entsteht eine leichte Röte und bei Onkel Behic Schaum vorm Mund. Doch bevor Schlimmeres passiert, rettet Ferhat die Situation. „In der Türkei, sagen wir ´Serefe´. Jammas verwendet man bei unseren lieben Nachbarn, den Griechen. „Ach ja, stimmt. Nun dann. Serefe“. „Serefe“ ertönt es nun von allen und Onkel Behics Schaum löst sich in einem Schluck Löwenmilch auf.
Bevor der Kellner den Tisch verlässt, nimmt er noch die Bestellung des Hauptgangs entgegen. Ich wähle den glasierten Rehrücken mit Wachholderbeeren an Kartoffelgratin und grünen Bohnen. Sabine nimmt den Hummer mit Grillgemüse und Kalle nimmt gezwungenermaßen das Rumpsteak mit Pommes, weil sein Wunsch nach einer Currywurst abgelehnt wurde.  
„Und bring ma noch a Bierche!“, hält Kalle den Kellner sein leeres Glas hin. „Mir bitte noch einen Rotwein zum Reh!“, hänge ich mich an. „Oh Sie sollten Raki und Rotwein nicht mischen!“, empfiehlt mir Ferhat. Das bekommt einem nicht. „In Ordnung, dann lieber ein Glas Löwenmilch!“. „Ich bleib beim Bierche. Das Löwezeich is net meins!“, besteht Kalle auf seiner Wahl, während der Kellner sich mit dem leeren Bierglas aufmacht, unsere Wünsche zu erfüllen.


Während des Hauptgangs erfahren wir von Ferhats Verwandtschaft in Heidelberg. Ob diese mit der meines Gewürzhändlers Halid aus Antalya bekannt ist, lässt sich mangels genauer Namenskenntnisse nicht feststellen. Heidelberg erscheint mir aber immer mehr, eine Enklave der Türkei zu sein. Komisch, dachte immer Mannheim wäre das. Egal. „Serefe!“. „Serefe“ ertönt es zum wiederholten Male zwischen Onkel Behic und mir. Die anderen Schwächlinge sind spätestens nach dem zweiten Glas ausgestiegen. Der Kellner ist dazu übergegangen Onkel Behic und mir eine Karaffe mit Wasser und eine Flasche Raki hinzustellen, um sich die Rennerei zu sparen. „Meinst Du nicht, es wäre langsam genug?“, raunt mich Sabine von der Seite an. „Soll ich unhöflich sein und meinem alten Freund Behic, hups, alleiiine trinken lassen?“. „Serefe!“, stoße ich nochmal an. „Serefe!“, antwortet Behic. „Serefe!“, kontere ich begleitet von meinem weiteren Schluck Löwenmilch.

Nach dem Hauptgang tritt der Hotelmanager im Anschluss an den Hauptgang in die Mitte des Saals und hält eine Ansprache.
„Liebe Gäste, ich freue mich, Ihnen zu unserem einjährigen Hotelbestehen als Höhepunkt des heutigen Abends den Tanz der Derwische aus Antalya präsentieren zu dürfen.“. Lautes Klatschen begleitet den Einmarsch von 5 Derwischen, die einen hellen Rock-Anzug und einen langgezogenen, zylindrischen Hut auf dem Kopf tragen. Sie positionieren sich im Kreis auf der kleinen Fläche in der Mitte des Saals. Dann ertönt türkische Musik. Und schon beginnt der Tanz. Alle fünf drehen sich um die eigene Achse und tauschen unter fortwährendem Drehen ihre Positionen. Die Drehungen beginnen sich mit dem Rhythmus der Musik immer mehr zu beschleunigen bis von den Körpern nur noch rotierende Kegel zu sehen sind, bis plötzlich der Tanz und die Musik mit dem lauten Ausruf „HEY“ der Derwische stoppen. Klatschen kommt auf. „Serefe“ stößt Behic auf die Darbietung mit mir an. Der Hotelmanager ergreift erneut das Wort. Liebe Gäste, wir möchten Sie nun einladen dieser uralten Tradition der Derwische zu folgen und an dem nächsten Tanz selbst teilzunehmen.“ Onkel Behic steht auf und fordert mich auf. „Untersteh Dich!“, raunt mir Sabine zu. Sie kennt mich noch als Boxenluder, das in der Diskothek “Zentralstation” in der Darmstadt zu Techno Rythmen auf riesigen Lautsprechersboxen abzappelte. „Sorry Sabine, es gebietet die Höflichkeit, wenn man aufgefordert wird“, und schon folge ich wankend Behic in den Kreis der Derwische. Die Musik ertönt. Behic nickt mir zu, und wir beginnen uns im Kreis zu drehen. Drehung um Drehung wird mir mehr und mehr bewusst, dass Löwenmilch eine schädliche Wirkung auf das Gleichgewichtsorgan hat. Während die Musik an Beschleunigung zunimmt, fängt der Saal sich an vor meinen Augen zu verwischen. Ein Gefühl wie bei langanhaltenden Walzerdrehungen. Beim Walzern hat man mit der Partnerin allerdings ein Gegengewicht zur Rotationsachse. Hier rotiere ich um mich selbst. Schneller und schneller. Für einen kurzen Moment erscheint mir Onkel Behics Gesicht als teufliches Grinsen, bevor alles wieder verschwimmt. Jetzt zeigt sich, wer der bestrotierende Kreisel jenseits des Äquators ist.
Ich bin es nicht. Mein Körper kreiselt vermehrt in Schlangenlinien, wie kurz vorm Umfallen. Dann stoppt die Musik und es folgt ein lautes „HEY“ der Tänzer und ein Krachen durch den Sturz eines Boxenluders das als blauer Löwe zu Boden geht. „HEY“, höre ich mich noch selbst lallen. „Haben Sie sich verletzt?“, versucht mir Onkel Behic besorgt auf die Füße zu helfen. Es bleibt bei dem Versuch. Nun ereilt mich der Fluch des Löwen und ein nicht mehr zu unterbindender Schwall Löwenmilch breitet sich von meinem Magen in Richtung Mund aus und ergießt sich zusammen mit halbverdautem Rehrücken über die Tanzfläche. Onkel Behic kann noch gerade zur Seite springen und im Saal macht sich Entsetzen und peinliches Schweigen breit.

„Ich denke, Sie sollten jetzt auf ihr Zimmer gehen!“, höre ich die Stimme des Hoteldirektors, während eilig ein paar Kellner meine Sauerei aufwischen. Ich spüre, Sabines Nähe und ihren Arm unter meinem, während ich auf die Füße komme. „Komm lass uns gehen“, höre ich sie sagen, während ich immer noch schwankend versuche stehenzubleiben. „Teufliches Zeug, diese Löwenmilch.“ Mitleidige Blicke folgen uns, während Sabine mich aus dem Saal führt.

Aus Rücksichtsnahme auf Sie, liebe Leser, verzichte ich auf weitere Einzelheiten der sich anschließenden Nacht. Nur so viel. Sollte jemand eine genaue Beschreibung der Toilettenschüssel im Royal Holiday Palace Hotel benötigen, so kann er sich gerne an mich wenden.

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