Gepäckausgabe

„Bitte bleiben Sie sitzen, bis unser Flugzeug die Halteposition erreicht hat“.

Dieser Aufforderung folgt umgehend die Hälfte der Passagiere und schnallt sich hab, um halbgebückt unter den Handgepäckklappe zu verharren. Ich eingeschlossen. Schließlich will man schnellstmöglich seine Koffer an der Gepäckausgabe in Empfang nehmen. Die Gefahr ist einfach zu groß, dass wertvolle Badelatschen, gebrauchte Zahnbürsten oder gestopfte Socken einem hinterlistigen Kofferdieb in die Hände fallen. Da heißt es auf Zack sein. Ein „Bling“ gibt den Start frei. Alle Gebücktsteher drängen sich nun in den Mittelgang, um die die Klappe zum Handgepäck zu öffnen, das dann prompt beim Herausnehmen auf den Kopf eines dämlichen Sitzenbleibers knallt. „Können Sie nicht aufpassen?“ „Können Sie nicht aufstehen?“ So ein Honk. Als hätte ich jetzt Zeit, wo’s doch um Leben und Tod oder noch schlimmer, um meinen Koffer geht. Der kurze Zeitvorteil, den ich mir durch das Aufstehen erarbeitet habe, wird durch die 10 Sitzreihen vor uns zu Nichte gemacht. Da hilft kein Schieben und Drängen. Diese entspannten Hare Krishnas, scheinen nicht zu begreifen, um was es hier geht. Nach endlosen 5 Minuten mit Handgepäck unterm Arm lösen sich die Sitzreihen vor uns auf und der Weg Richtung Boardausgang wird frei. Während ich mich im Flur stehend mit ganzer Kraft gegen die hinter uns Drängenden stemme, rutschen Noah und Sabine aus unserer Sitzreihe und schlendern Richtung Ausgang. „Etwas schneller bitte mein Schatz!“, mahne ich Sabine zur Eile. „Wieso denn? Wir sind doch im Urlaub?“ „Sag das mal den Wilden hinter uns!“ „Übertreib nicht schon wieder!“. Äußerlich entspannt und innerlich auf 180 passiere ich den Steward, der mir mit einem Augenzwinkern und Handschlag einen Zettel mit Telefonnummer in die Hand drückt. Wofür, erschließt sich mir nicht und ich stecke den Zettel in die Hosentasche. Beim Verlassen des Flugzeugs schlagen uns die 35 Grad Antalyas auf die Haut. Jetzt aber los. Ich nehme Noah auf die Schulter, damit er nicht überrannt wird. Immer den Schildern Richtung Gepäckausgabe folgend, gehen bzw. rennen wir im Pulk bis zu dem Gepäckband über dem auf einer elektronischen Anzeige „Flug LH 1203 aus Frankfurt“ angezeigt wird. „Wieso läuft, das Band noch nicht. Ist das in der Gewerkschaft und hat jetzt Mittagspause, oder was? Wozu der ganze Stress, wenn jetzt nicht unsere Koffer kommen?“, rege ich mich über die Faulheit der türkischen Förderbände auf. „Jetzt beruhig Dich mal mein Lieber. Ich besorge inzwischen einen Kofferkuli. Pass Du auf Noah auf.“, sagt’s und entschwindet Richtung Kofferkuli-Schlange. „Papa, worauf warten wir hier.“ „Das frag ich mich auch. Nein. Mein Sohn, das ist ein Kofferband. Die Koffer werden jetzt vom Flugzeug ausgeladen und auf das Kofferband gelegt. Das passiert außerhalb von dieser Halle. Siehst Du, da hinter diesem Vorhang aus schwarzen Plastikstreifen, da müssten gleich die Koffer erscheinen, wenn das Band losläuft.“ Und als hätte ich das Kommando gegeben, setzt sich das Band in Bewegung. Oh Schreck, wir stehen auf der falschen Seite. Sozusagen am Ende des Bandes, wenn die Koffer wieder im Nirvana hinter dem schwarzen Vorhang verschwinden. „Papa darf ich mit dem Jungen spielen, der im Flugzeug vor uns gesessen hat?“ „Ja, ja mach nur! Aber nicht zu weit weglaufen. Ich gehe inzwischen auf die andere Seite des Bandes, weil dort die Koffer zuerst rauskommen. Verstanden?“ „Ok“. Das wäre ja noch schöner, da ist man sozusagen erster am Gepäckband und bekommt als letzter seine Koffer. Geht gar nicht. Also die Seite wechseln. Jeder Koffer, der aus dem Nichts erscheint, wird mit meinen Adleraugen sofort gescannt. Ich bin bereit, mich auf meine Beute zu stürzen und mit meinem Leben zu verteidigen. Mein Koffer, meine Badelatschen, meine Zahnbürste, mein Schatz. „Mein Schatz, wo ist Noah?“, spricht mich Sabine mit einem Kofferkuli von der Seite an. „Ich kann jetzt nicht, ich muss mich konzentrieren, sonst verpasse ich unsere Koffer!“ „Wo ist Noah?“, beharrt Sie nochmal. „Der spielt mit dem Jungen aus dem Flugzeug!“ „Wo?“ „Na, auf der anderen Bandseite“. „Was? Du lässt unser sechsjähriges Kind unbeaufsichtigt hier mit fremden Kindern herumspielen, ohne ihn im Blick zu behalten?“ Langsam kommt die Frage und die damit verbundene Bedrohung in meiner Großhirnrinde an. „Warte ich schau mal!“ Mein Blick löst sich von den Koffern auf dem Gepäckband und schweift über die wartenden Touristen. Wie soll sich in dem Getümmel ein Kind, das nur halb so groß ist, wie ich zurechtfinden. Ich gehe oder besser laufe auf die andere Seite. Kein Noah in Sicht. „Entschuldigung“, wende ich mich an das ältere Paar vom Boarding, das nun auch am Kofferband wartet, „haben Sie vielleicht meinen Jungen gesehen? Sie wissen schon, der mit Ihnen an der Panorama-Scheibe stand in Frankfurt am Flughafen?“ „Tut uns leid, den haben wir leider nicht gesehen?“, ist die klare und vernichtende Antwort. Mein Sohn ist weg. Eine dumpfe Übelkeit breitet sich vom Bauch, über Brust, Richtung Kopf aus und schnürt mir die Kehle zu, so dass ich kaum noch Luft bekomme. Mein Kind ist weg. Hier in der Türkei. Auf einem riesigen Flughafen. Der Sprache nicht mächtig. Wahrscheinlich haben Sie schon dreimal auf Türkisch durchgesagt, dass endlich jemand, das verlorene, verwahrloste Kind abholen soll. Und vielleicht hat dann ein falscher Vater, der die Durchsage verstanden hat, mein Kind, mein liebstes, an sich gerissen und verschleppt, missbraucht, verkauft. Mir wird schlecht.

„Papa, schau mal!“, höre ich eine mir bekannte Kinderstimme vom Gepäckband. Wie auf einem Karussell hinter seinem neuen Freund sitzend, strahlt mich mein Junior an. „Wir sind schon einmal raus und wieder reingefahren. Die Arbeiter legen draußen die Koffer auf das Band. Einer hätte uns beinahe runtergenommen, aber die anderen haben ihn davon abgehalten. Die Plastikstreifen, durch die man fährt sind ganz weich und kitzeln.“ „Sofort runter vom Band!“, rufe ich schweißgebadet zornig aber auch erleichtert. „Was ist denn los Papa?“. „Sofort runter!“ Er versteht nicht, was ich gerade durchgemacht habe. Wie auch. Der Adrenalinspiegel sinkt und meine Stimme wird etwas ruhiger. „Du kannst Dich im Förderband einklemmen!“. Er steigt etwas mürrisch vom Band. Gleich darauf kommt Sabine außer Atem um die Ecke. Voller Erleichterung geht sie in die Hocke und umarmt ihn. „Wo warst Du denn?“. Mit dem Gespür jetzt besser nicht die Wahrheit zu sagen, blickt er fragend hinter Ihrem Kopf zu mir hoch und sieht mein leichtes Kopfschütteln. „Ich hab nur mit Luis gespielt. Luis ist mein neuer Freund!“

2 Kommentare

  1. Mir bricht bei der Beschreibung ebenfalls der Schweiß aus – und ich frage mich zum millionsten Mal: Warum fliegen bloß alle immer ständig um die Welt herum? Und wenn alle doch ständig fliegen: Warum lernen sie nicht, wie’s für alle angenehm funktioniert?
    Da lob ich mir doch Reisen mit der Bahn. Gut, die fährt halt nicht grad “zeitnah” in die Türkei, aber an andere schöne Orte wie Köln. Oder Bamberg. Oder Coburg. Metropolen halt.
    Ich erwarte gespannt die weitere Beschreibung schätzungsweise wetterbedingt hitziger Tage (;

    1. Leider steckt in mir auch ein wenig dieser rücksichtslose Pauschaltourist, dem ich hier im Buch eine sartirische Plattform gebe, mit der Hoffnung mich selbst zu bessern 🙂
      P.S.
      Bamberg kann ich auch sehr empfehlen!

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