Your passport please

Ich glaube, in mir steckt eine kleine Verbrecherseele. Wie sonst lässt es sich erklären, dass ich beim Vorbeifahren eines Polizeiautos jedes Mal ein schlechtes Gewissen bekomme. Dabei bin ich doch der Vorzeigebürger schlechthin. Ich gehe täglich zur Arbeit, trinke morgens meinen Kaffee, zahle Steuern, bin gesetzlich krankenversichert und schaue mir Sonntagsabend den Tatort im Ersten an. Was will man mehr. Und trotzdem läutet jetzt wieder mein inneres Alarmsignal beim Anblick der 15 Passkontrollhäuschen, vor denen wir uns anstellen müssen. „Hau ab! Nix wie weg! Du bist kurz vor der Inhaftierung!“, rät mir eine innere Stimme während eine weibliche äußere fragt: „Hast Du die Pässe?“. „Nein. Ich habe Sie Dir nach dem Check-In in Frankfurt gegeben“, und schon schaltet mein Puls einen Gang höher.  „Das gibt’s doch nicht. Ich bin mir sicher, ich habe sie in die Handtasche gesteckt!“. „Lass mich mal.“ „Finger weg von meiner Tasche! Die müssen doch hier irgendwo sein.“, kramt Sabine hektisch weiter im ledernen Nirvana. „Mrs. Ordentlich hat mal wieder alles im Griff. Wie? Ist ja nicht so, dass da vier türkische Zollbeamte mit Maschinenpistolen im Anschlag neben den Kontrollhäuschen stehen, die auf deutsche Touristen ohne Pass warten, um mal schön ein paar Schießübungen zu machen!“. Nervös beginne auch ich im Handgepäckrucksack meine Suche nach den verlorenen Papieren. Unser Disput und das Kramen in den Taschen ist der bewaffneten Staatsmacht aufgefallen. Ihre Körper mit Waffen im Anschlag drehen sich bedrohlich in unsere Richtung. „Hab sie!“, kommt der befreiende Ausruf, während Schatzi die gefundenen Pässe zum Zeichen der Kapitulation über ihrem Kopf schwenkt. Hochrot mit zitternden Händen erreichen wir das Kontrollhäuschen. Hinter der Glasscheibe mit kleiner Durchreiche sitzt ein furchteinflößender, uniformierter Zollbeamter mit tiefschwarzen Augen, rabenschwarzen Haaren, Theo Waigel Augenbrauen und einem Oberlippenbart, der um die Mundwinkel bis zum Kinn hinabführt. Eines ist klar: Der versteht keinen Spaß.

„Your Passports, please?“

Spontan fallen mir beim Anblick dieses Kontrolleurs meine schlimmsten Sünden ein. Den als Mutprobe ausgeführten Diebstahl von Essgummischlangen im Tante-Emma Laden nach dem Fußballtraining in der E-Jugend. Der erstellte Spickzettel in der 5. Klasse, der zwar nicht genutzt wurde, aber schließlich zählt schon die Absicht. Die beim Spielen mit einem Tennisball eingeworfene Kirchenscheibe, wegen der dann aufgrund meiner Feigheit die beiden Zwillinge vom Pfarrer ins Gebet genommen wurden, weil die immer schuld waren, wenn was passiert ist. All das spiegelt sich jetzt und hier in meiner von Schweißperlen überzogenen Stirn und meinem von Schuld gezeichneten Gesicht wider. Mit gesenkten Kopf erwarte ich die Worte „Abführen! Ab mit diesem Halunken ins schlimmste türkische Strafgefangenenlager, bei Wasser und Raki!“.

In vollem Bewusstsein meiner ausweglosen Situation sehe ich mich zu einem Geständnis genötigt, um 10 Jahre Strafmilderung heraus zu handeln: „I’m guilty“.

„Your passports please!“, ertönt es ungeachtet meiner Äußerung hinter der Glasscheibe. „Die Pässe habe ich“, springt Sabine wieder mit den Pässen wedelnd vor mich an den Schalter und reicht diese durch den kleinen Schlitz in der Scheibe. Der Beamte prüft mit der Gelassenheit eines Inquisitors die Pässe und hält meinen Pass, wie zum Vergleich, an die Scheibe neben meinen Kopf. Zugegeben das Passbild stammt noch aus einer Zeit, in der ich mehr Haare und weniger Gewicht hatte, aber das ist schon ein wenig unverschämt, was der da abzieht.

Beim Anblick von Noah, seinem Pass und Nachnamen, der von meinem abweicht, sieht mir der Beamte nochmal durchdringend in Augen. „Is the boy, your son?“ Eigentlich eine einfache Frage. Und zur Prüfung des in den Raum gestellten Zweifels eines wildfremden aber vielleicht menschenkundigen Experten blicke ich auf meinen Sohn hernieder. Warum hat er eigentlich so volles Haar, wo ich seit Kindeszeiten diese Geheimratsecken habe? Und die Augenfarbe ist auch nicht meine! Überhaupt die ganze Figur? Also, wenn ich mir’s richtig überlege. Ich meine, man weiss ja nie. Doch dann blickt mein Junior mit den Augen der Unschuld zu mir hoch.  „Was hat der Mann gefragt Papa?“. „Nichts mein Sohn. Nur, ob Du mein Kind bist. Ich meine das sieht man doch, oder mein Lieber!“, und streichele ihm liebevoll über den Kopf. „Yes, he is my son!“, ist dann auch meine feste und stolze Antwort. Da kannst Du kleiner Skeptiker in Uniform noch so kritisch schauen. „What is the reason for your journey to Turkey?“. „Nun, Waffen- und  Drogenschmuggel und wenn es sich ergibt steuerfreier Diamanten-, Silber- und Goldkauf“, geht es mir durch den Kopf, aber heraus kommt zum Glück: „Holiday!“.  

„Have a nice time in Turkey!“, sagt er und gibt uns die Pässe zurück. „Komm schon. Worauf wartest Du?“, nimmt Sabine die Pässe entgegen und schiebt mich aus der Schockstarre vom Schalter weg.

Wie das war’s jetzt? Wo bleibt die Gerechtigkeit? Warum werde ich wieder verschont? Ich Sünder, ich Verbrecher, ich Judas, ich Hannibal Lektor der Essgummischlangen! Meine schwarze Seele und die Gewissensbisse bleiben mir also erhalten bis zum Jüngsten Gericht oder bis zur Veröffentlichung dieser Zeilen.

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