Boarding

Vor dem eigentlichen Besteigen des Flugzeuges kann man die Zeit in der Boarding-Zone nutzen, um völkerspezifische Eigenschaften am gemeinen Homo-Sapiens zu studieren. Insbesondere dann, wenn der Flug sehr früh geht und die Passagiere schon die halbe Nacht mit Anreise, Check-In und Schlägereien mit Security hinter sich haben. Geeignet für diese Studien am lebenden Objekt ist das Paarverhalten der Mitteleuropäer. Die Ausgangsituation ist für alle die gleiche. Jedes Paar ist erschöpft, ausgelaugt und müde in dem Bewusstsein, dass es sich jetzt nur noch um ein paar Minuten, Stunden oder Tage handeln kann, bis man endlich seinen langersehnten Platz im Flugzeug einnimmt. Da die Anspannung in diesem Moment etwas nachlässt, wird nach Möglichkeiten gesucht, den übermüdeten Körper noch einmal zu entspannen. Doch das ist leichter gesagt als getan, da in der Boarding-Zone weder bequeme Liegestühle noch französische Wasserbetten zu finden sind. Ein Umstand, den ich schon mehrfach schriftlich bei der Flughafenleitung bemängelt habe. Es bleibt einem also nichts anderes übrig, als sich mehr oder weniger bequem der Länge nach über 2-3 Plastik-Schalensitze zu legen. Und hier zeigt sich das volksspezifische Paarverhalten:

Der deutsche Mann nimmt seine Rolle als dominantes und wenig einfühlendes Exemplar der Art „Ist mir doch Scheiß egal, Hauptsache ich kann schlafen“ wahr, und legt sich hin. Nicht ohne die Partnerin darauf hinzuweisen, dass es bequemer ist, den Kopf bei ihr in den Schoß zu legen. Das Wohlgefallen wird nach einer Minute mit einem stetigen, sonoren Schnarchen mitgeteilt, während sie genervt und mechanisch seinen Kopf streichelt, in dem Bewusstsein, vor 10 Jahren bei der Willenserklärung zur Eheschließung doch die falsche Antwort gegeben zu haben.

Der Franzose lässt seiner Partnerin den Vortritt und beginnt, nachdem diese sich auf den Hartplastikstühlen der Länge nach drapiert hat, sofort an ihren Körperteilen rumzuschrauben. Wobei das bevorzugte Körperteil zwei Rundungen aufweist, die durch eine Bluse verdeckt sind. Falls die Partnerin dann eingeschlafen ist, wird sich schnell umgesehen, ob noch andere Weibchen der Gattung Homo Sapiens in der Boarding-Zone umherirren, mit denen eine Kopulation eine vielversprechende Erfahrung sein könnte. Ist dies nicht der Fall, zieht er ein Weinglas, eine Flasche Rotwein, einen Camembert und ein frisch gebackenes Baguette aus der Jackentasche und widmet sich den wirklich wichtigen Dingen des Lebens.

Der Türke setzt sich hin und baut ein Back-Gammon Spiel auf. Da Türkinnen nicht vor die Tür dürfen, stellt sich die Frage nach dem Paarverhalten nicht. Sollte sich doch einmal ein türkisches Weibchen auf einen Flughafen verirren, so setzt dieses sich zwei Stuhlreihen weg von ihrem Mann. Umringt von Mutter, Großmutter, vier Cousinen und 15 Großtanten, die auf die Ehre aufpassen, falls der Franzose sich nähert.

Diese so unterschiedlich wahrgenommene Ruhephase wird nur durch den Aufruf zum Besteigen des Flugzeuges unterbrochen. Wie jetzt gerade, was mich aus meinem wohlverdienten Schlummer reist. Warum mein Kopf an einer Stelle jetzt wund gescheuert ist, ist mir allerdings unklar?

„Liebe Fluggäste, in wenigen Minuten beginnen wir mit dem Boarding. Bitte halten Sie Ihre Flugtickets bereit. Um das Einsteigen möglichst zügig durchzuführen, bitten wir zuerst die Gäste mit Tickets der Gruppe ´E´ an Board. Vielen Dank!“, tönt es über Lautsprecher von der Dame am Boarding Pult. „Kannst Du mal nachschauen, was auf unseren Tickets steht?“, hebt meine Liebe meinen Kopf aus ihrem Schoß. Die Augen noch verklebt, krame ich die Tickets aus meiner Jacken-Innentasche. Schlaftrunken erkenne ich nur verschwommene Buchstaben. „Da steht nichts drauf von E“. „Steht ein anderer Buchstabe drauf?“, hakt Schatzi nach. „Nein, ich sehe keinen!“ „Gib mir mal die Tickets! Da. Da steht‘s doch. Gruppe B. Du brauchst langsam wirklich eine Brille!“. In der Tat. Unten rechts. Gruppe ´B´. „Na, dann sind wir ja noch nicht dran“, und begebe mich wieder in die Horizontale. „Bleib jetzt oben, das geht schneller als du denkst. Außerdem habe ich keine Lust mehr, deinen Kopf zu streicheln.“ „Schon gut! Setzen wir uns auf und warten auf Gruppe B“. „Verehrte Gäste, wir bitten nun die Passagiere der Gruppe E zum Boarding!“, knackt es aus den Lautsprechern. „Auf! Nimm du das Handgepäck, ich sammle Noah an der Panoramascheibe ein!“. „Schaahatz. Die Gäste der Gruppe ´E´ sollen einsteigen. Wir sind Gruppe B. ´B´ wie Berta, Busen oder Bettag. Oder hast Du inzwischen unsere Tickets getauscht?“ „Mein lieber ach so ehrlicher Mann, würdest du bitte einen Blick auf alle anderen Fluggäste werfen. Die stellen sich auch alle an. Glaubst Du wirklich, dass die alle zur Gruppe ´E´ gehören? Los jetzt, aufgestanden!“ „Nein, da mach ich nicht mit. Es macht keinen Sinn sich vorher anzustellen.“ Machtwort ausgesprochen. Manchmal muss das sein. Seinen Mann stehen. Sonst tanzt einem die Partnerin auf der Nase rum. Nebenbei kann man ja aufstehen das Handgepäck aufnehmen und sich anstellen. Schließlich macht das ja jeder. Und jeder wartet auch jetzt in der 15 Meter langen Schlange anstatt auf einem der 150 bequemen Plastikstühle zu sitzen, die direkt neben der Schlange alleine, verlassen und ungenutzt rumstehen. Ausnahme ist nur ein älteres Pärchen, das hinten links noch ganz entspannt auf ihren Plätzen die Flugzeuge beim Starten und Landen beobachtet. „Was hat der Kerl richtig gemacht und ich falsch? Wahrscheinlich fortgeschrittene Taubheit im hohen Alter, da muss man nicht mehr auf alles reagieren. Ja, mit 66 Jahren, da fängt…“, schießt mir der Ohrwurm von Udo Jürgens durch den Kopf.

„Wir bitten nun die Gäste mit Tickets der Gruppe ´C´ und ´D´ einzusteigen!“. Die Aufforderung hätte sie sich sparen können. An der per Pedes festgelegten Reihenfolge ist nichts mehr zu ändern. Eigentlich müssten ja jetzt alle Gäste der Gruppe A, B  zur Seite treten, um C und D vorzulassen. Das passiert nicht. Offensichtlich gibt es nur noch C und D Tickets. Genau wie unseres.

Also warten wir im Stehen, wie viele vor uns. Wir warten jetzt. Und wir warten nach der Ticketkontrolle in dem gefalteten, miefigen Plastikschlauch vor dem Betreten des Flugzeugs. Hinter uns hören wir die Durchsage. „Wir bitten nun alle Passagiere der Gruppe A und B das Flugzeug zu besteigen.“ Beim Rückblick sehen wir das ältere Pärchen sichtlich entspannt, lächelnd und freundlich am leeren Schalter seine Tickets vorzeigen. „Warum müssen wir so lange warten?“, fragt mich meine Liebe voller Ungeduld. Ich will nun endlich los. “Keine Angst, die fliegen nicht ohne uns“. Beim Betreten der Kabine begrüßt uns der gutaussehende, geschminkte Steward und sogleich, merken wir, warum alles solange dauert. Passagiere der Gruppe A, die so unverschämt waren, schon mit der Gruppe D einzusteigen versperren durch das Einräumen ihres Handgepäcks den folgenden Passagieren den Weg. Mehrfach wird sich hingesetzt, wieder aufgestanden, wieder hingesetzt, nochmal aus dem Klappfach über sich etwas herausgenommen. Ein Graus. Und wir müssen wegen diesen Deppen warten, die sich nicht an die Reihenfolge gehalten haben. Es hätte so einfach sein können. „Das ist glaube ich unser Platz. B 12A, B12B und B12C.“ Erleichtert darüber, dass Schatzi unsere Plätze gefunden hat, öffne ich die Klappe über den Sitzen, um unser Handgepäck zu verstauen. „Dürfte ich mal vorbei, bitte!“ Höre ich einen Passagier, der sich an meinem Hintern vorbeidrängt. „Du kannst jetzt schön warten!“ So ein Heinzel. Stört mich hier beim Einräumen. Hätte sich schließlich rechtzeitig anstellen sollen mit seinem C-Ticket. „So das wäre geschafft. Alles klar bei Euch? “, frage ich, während wir uns auf unseren Sitzen einrichten und mit dem Gurt vertraut machen. “Papa, ich will aber am Fenster sitzen.“ „Mein Gott, Noah. Hättest Du das nicht vorher sagen können. Lass die Mama am Fenster sitzen. Der wird’s sonst schlecht!“ „Ich will aber am Fenster sitzen! Mama!“. „Nun, lass ihn halt!“ Also alle wieder in den Gang und Platzwechsel. „Entschuldigung, dürfte ich mal vorbei!“, kommt schon der Nächste, während wir im Gang stehen.  „Nein, jetzt nicht. Du siehst doch, dass der kleine Prinz seinen Fensterthron besteigen muss.“ „Sorry!“, quetscht sich dieser übereilige D-Ticket Träger entlang und hinterlässt eine Schweißspur an meinem Rücken. „So, jetzt aber! Das wäre geschafft.“, lasse ich mich in den Sitz fallen. „Mein Lieber, kannst Du mir noch die Brigitte aus der Tasche geben?“. Mein vernichtender Blick hilft nichts. „Bitte!“. Wieder aufstehen, Klappe auf, Tasche raus, Brigitte raus“. „Dürfte ich kurz mal vorbei. Bitte!“, fragt kleinlaut die Öko-Brünette mit Nickelbrille und E-Ticket, während ich versuche, die Tasche wieder hinter der Klappe zu verstauen. „Ja ist denn hier irgendwo ein Nest!“, rutscht es mir raus. „Wie bitte?“, blickt mich Miss Möchtegern naturverbunden im Maximalausstoß-CO2-Jet nach Antalya an. „Nichts!“, erwidere ich kurz und setzte mich hin. „Entschuldigung!“ „Jetzt nicht ausrasten!“, denke ich mir, als ein Teenager mit Anhang und Ticket in der Hand steht neben meinem Sitz stehenbleibt. Einfach ignorieren. Der kann schließlich vorbei. „Entschuldigung!“, räuspert er sich. „Ich glaube, das sind unsere Plätze!“ Schatz und ich tauschen die Blicke. Ein Achselzucken ist die Antwort. Ich krame die Tickets heraus, prüfe die Nummern und erhebe mich dann mit voller Körpergröße vor dem Hanswurst. „Mein liebes Bürschchen,  hättest mal besser in der Schule aufpassen sollen. Was steht hier auf meinen Tickets? Na?“. „B12A, B12B und B12C!“, liest er korrekt vor. „Richtig und was steht hier auf dem Schild, auf das ich mit meinem Finger zeige? Na?“ „B11A, B11B, B11C“, gibt er zurück. Mein Blick folgt meinem Arm und am Ende dem Zeigefinger, der zielgenau auf B11A stehenbleibt. „Schatz, wir müssen umziehen. Alles raus. Ein Platz weiter!“. „Papa ich will aber am Fenster sitzen.“ „Entschuldigung!“ höre ich es schon wieder neben mir während der Umzugsaktion. „Jetzt gibt’s aber gleich ein Paar auf die Zwölf!“, will ich gerade sagen, als ich im Umdrehen in das schöne Gesicht des Stewards blicke. „Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein, damit wir mit der Sicherheitsbelehrung beginnen können.“ Außer uns Dreien steht keiner mehr im Gang. So gehört sich‘s.